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Ein Abendspaziergang

Mittwoch, 12. Juli 1995

Es war schon weit nach 23.00 Uhr. Ich war müde, aber noch unruhig und wollte noch nicht schlafen gehen. Irgend etwas lies mich noch nicht ruhen. Es zog mich fort, hinaus aus meiner Wohnung. Ich beschloß, meine Jacke anzuziehen und noch einen Abendspaziergang zu unternehmen. Auf der Straße ging ich in Richtung Norden, nicht, weil ich es mir aussuchte, sondern ohne bestimmtes Ziel zog es mich einfach in diese Richtung. Mich zog es einfach weg von den leblosen Häusern aus Beton und den lauten, harten Asphaltstraßen, weg von den Straßenlaternen. Ich wollte in der Dunkelheit der Nacht auf der Erde, am Besten auf Wiesen und im Wald gehen. Meinen Gedanken lies ich freien Lauf, aber es wollte sich kein so rechtes Thema finden, über das ich vielleicht philosophieren konnte. Aber ich spürte noch immer diese Unruhe in mir, die mich mehr und mehr von der Stadt wegzog, hin zur Markus-Zahn-Allee. Das war meine Richtung, mein Ziel. Ich wußte es, als ich den Weg zur Beamtenlaufbahn einschlug. Dort, wo die großen Bäume etwas näher beieinander stehen. Sie kamen mir vor, wie das Tor zu einer Kathedrale, der Eingang zu dessen Vorraum. Meine Gefühle, mein Herz sagten mir, daß ich nicht einfach hineingehen darf. Die großen Bäume links erschienen mir wie Wächter. Sie stellten fest, wer warum des Weges kommt und sie erteilen die Erlaubnis weiterzugehen, nachdem sie um Einlaß gebeten wurden. Jeden Besucher melden sie weiter an alle anderen Bäume, Sträucher, Büsche, Gräser und Steine. Nur, die meisten Menschen beachten sie nicht und so hören diese Menschen auch nicht, was diese Bäume und Sträucher sagen. Meine innere Unruhe lies etwas nach und Neugierde, oder besser, freudige Erwartung stellten sich ein. Ich fragte, ob ich weitergehen soll, darf oder nicht. Innerlich spürte ich, daß ich ruhiger wurde, aber mein Ziel noch nicht erreicht hatte, Ich bat die Wächter um Verzeihung, daß ich jetzt weiterging, hielt noch einen Moment inne, um dann mit langsamen Schritten weiterzugehen. Die Dunkelheit um mich herum wurde größer. Nach wenigen Metern bog ich nun in die Beamtenlaufbahn ein. Der Weg vor mir war schwarz wie die dunkelste Nacht., aber am anderen Ende erkannt ich einen kleinen hellen Fleck, an dem jemand zu stehen schien. Wieder blieb ich stehen, weil der Eingang zum Weg durch die großen Bäume und Sträucher links und rechts stockfinster war. Es war, als ob ich im Vorraum der Kathedrale vor dem Hauptraum stand. Ich versuchte mich zu konzentrieren. Ich bemühte mich, all das Alltagsgeschehen beiseite zu legen, um zu hören und zu spüren, was diese Bäume und Sträucher links und rechts von mir sagten. Vernehmen konnte ich nichts, also bat ich die Bäume und Sträucher links und rechts von mir um die Erlaubnis, weitergehen zu dürfen. Fast etwas ungeduldig wartete ich auf eine Antwort. Ich war zuerst fast ärgerlich, nachdem ich nichts vernahm. Doch dann sagte ich mir, daß Ungeduld und der ärger fehl am Platz waren. Ich entschuldigte mich für meine Ungeduld und wartete ruhig auf das, was nun kommen würde. Nun spürte ich die Ermunterung weiterzugehen. Gerade so, als ob jemand lachend und freundlich sagte, wir haben doch auf dich gewartet und da du nun bereit bist, dann komm. Erleichtert, aber doch noch etwas mit dem Alltag beladen, schritt ich nun weiter, hinein ich die Dunkelheit. Ich spürte, daß mich die Bäume, Büsche und Sträucher genauso schützen, wie die Dunkelheit der Nacht selbst. Das leise Rascheln von Blättern ist, als ob der Baum mir etwas zuflüstern will. Doch ich bin noch nicht an meinem Ziel angelangt. Langsam aber sicher gehe ich den Weg entlang, an dessen Ende der helle Fleck langsam größer wird. Immer mehr gewinne ich die Überzeugung, daß dort, wo der Schatten im hellen Fleck ist, jemand steht und auf mich wartet. Links, von der Stadt her, blinzelt immer wieder Licht durch die Blätter und leise dringt die Musik vom Volksfest zu mir. Gerade so, als ob sie mich von meinem Weg ablenken wollten. Ich aber lasse mich nicht beirren und gehe weiter, fast verärgert, daß das Licht und die Musik mich nicht in Ruhe lassen können. Ich habe doch wichtigeres zu tun. Am linken Wegrand steht ein Pavillon. Er paßt nicht hierher, ist fehl am Platz. Ich gehe weiter zu der Stelle, an der der Weg vor mir nach rechts abbiegt. Jetzt bin ich an dem Platz, der mir als heller Fleck erschienen ist. Natürlich ist es auf dem Weg heller und der Schatten ist ein Baum. Ich spüre, dass hier mein Weg zu Ende ist. Nichts zieht mich mehr weiter, oder von hier fort. Am rechten Wegrand erkenne ich einen fast alleinstehenden Baum. Ich spreche den mächtigen Baum an und versuche mit ihm zu sprechen. Aber ich bekomme keine Antwort, als ob er mir sagt, heute bin ich nicht der, der mit dir spricht. Etwas enttäuscht wende ich meinen Blick von ihm ab und sehe nun den Baum, den ich als Schatten im hellen Fleck die ganze Zeit über gesehen habe. Ich gehe auf ihn zu und spüre wie er mich ermuntert, zu ihm zu kommen. Ich stehe jetzt vor ihm und meine rechte Hand fühlt die knorrige, rauhe Rinde. Ich muß nun an die amerikanischen Indianer denken und tu es ihnen jetzt gleich. Vor Dunkelheit kann ich den Baum nur als Schatten sehen, aber meine beiden Hände fühlen und spüren seinen Rinde. Mit dem Gesicht gehe ich so nahe an den Baum, bis meine Nasenspitze an den Baum stößt und meine Nase die Rinde riecht. Ein kräftiger, würziger Geruch strömt in meine Nase. Ich breche ein kleines Stück von der Rinde ab und schiebe es in den Mund um es zu zerkauen und zu schmecken. Zuerst neutral, dann etwas bitterer. Nun spreche ich in Gedanken zum Baum, in dem ich ihm sage, daß ich als Freund gekommen bin und ihn kennenlernen möchte. Ich möchte ihm nicht weh tun. Ich sage ihm, was ich fühle, rieche und schmecke. Weiter sage ich ihm, dass ich gerne als Freund wiederkommen möchte und daß er allen anderen Bäumen, Sträuchern, Büschen, Vögeln und Würmern, allen Tieren und Pflanzen und auch dem Wind, wenn er in den Blättern spielt, sagt, daß ich als ein Freund von allen sein möchte und daß ich auch von allen der Freund sein möchte. Ich hielt noch einen Moment inne, um zu warten, was der Baum mir antwortete. Ich spürte nun, daß meine innere Unruhe verflogen ist und daß sich in meinem Herzen Ruhe, Harmonie breit gemacht haben. Ich danke dem Baum dafür, daß er mich als Freund angenommen hat und verabschiede mich von ihm. Ich wußte, daß ich ab jetzt mit ihm und all den anderen, solange ich wollte, geistig in Verbindung stand. Ich nahm meine Hände von der Rinde, trat einen Schritt zurück, verhielt noch kurz und atmete noch einmal tief ein. Danach drehte ich mich um und machte mich auf den Rückweg. Diesmal sah ich kein Ziel und keinen Fleck, ich ging direkt in ein schwarzes Loch. Wohlig spürte ich die Bäume und Sträucher links und rechts von mir, wie sie mir den Weg in der Dunkelheit weisen. Das Licht und die Musik, jetzt von rechts aus der Stadt, störten nicht nur, nein, sie waren jetzt sogar lästig. Ich wünschte mir, daß das Licht erlöschte und die Musik verstummte, damit ich nur noch mit meinen Freunden auf diesem Stückchen Erde bin, vereint in Frieden und Harmonie. Der Pavillon, von dieser Seite vom städtischen Licht schwach beleuchtet, wirkt noch fremder und noch störender. Vermehrt blinzeln jetzt wieder die Lichter der Stadt durch die Blätter und nun erkenne ich zwei gegensätzliche Welten. Hier, wo ich jetzt bin, beleuchten die Sterne und der Mond die Nacht, überall im ganzen Land. Bis zum Horizont, soweit das Auge reicht, kann man das Land, die Wälder, Wiesen und vieles mehr sehen. Hier herrscht Ruhe und Frieden, Harmonie und Gleichklang. Der Wind, die Rufe der Tiere, alles fügt sich harmonisch in das Land ein und ergänzen es. Man spürt und fühlt die Weite und erkennt von den kleinsten Dingen beginnend die große, göttliche Ordnung und die allgegenwärtige göttliche Anwesenheit. Und dort die Stadt mit dem Versuch, die Nacht mit ihren Straßenlaternen zu erhellen. Doch die Laternen blenden auch auf größere Entfernungen nur das Auge und verursachen dadurch, daß außerhalb ihres kleinen, winzigen Lichtkegels vom Auge vieles nicht mehr erkannt werden kann. Anstatt zu erhellen, blenden die Straßenlaternen vieles in der Nacht. Im Bierzelt mag die Musik ja noch gut und schön sein, aber außerhalb? Da wirkt die Musik zuerst störend, weil sie einfach nicht in die Landschaft paßt. Entfernt man sich noch etwas weiter, dann ist es Lärm, der vieles übertönt und die Ohren betäubt. Die Laternen und diese Musik sind symbolisch für diese Gesellschaft. Sie blenden und betäuben. Den Blick ziehen sie auf einzelne, kleine Dinge und verhindern dadurch, daß man die Gesamtheit der Schöpfung erkennen kann. Durch die laute Musik und werden viele leisere Töne und Geräusche übertönt und nicht mehr gehört. Sinn, Zweck und Ziel dieser Gesellschaft ist es, dem Einzelnen Menschen den Überblick und die Übersicht zu nehmen, damit sich Leute, die sich für wichtig halten, jedem Einzelnen sagen können, was er zu tun und zu lassen hat. Das Volk wird beruhigt, eingeschläfert und träge gemacht, damit sich ein kleiner Kreis auf Kosten des Volkes ein schönes Leben machen kann. In diesem Moment will ich nicht mehr zurück in die Stadt. Ich möchte mich im Bewußtsein als Teil der Schöpfung begreifen und Eins sein mit allen Tieren, Pflanzen, der Erde, der Sonne, dem Mond und all den Sternen. In diesem Kreis eingereiht, spüre ich die Unendlichkeit Gottes, den ewigen Kreislauf zwischen Leben und Tod in dem Bewußtsein, daß der Tod nur der Übergang in ein anderes Leben bedeutet. Deshalb ist der Tod auch ohne Schrecken und ich kann ihn fast nicht mehr erwarten, weil ja dann das bisherige, schwierige Leben in ein anderes, viel schöneres Leben übergeleitet wird. Mir ist jetzt bewußt, wie trostlos, öde und abstoßend diese verlogene Gesellschaft ist, in die ich zurückgehen soll. Ich wehre mich, in die Stadt zu gehen, aber ich habe noch nicht die Kraft, standhaft zu bleiben. Ich gehe doch nach Hause. Am Fenster stehend, sehe ich Bäume, den Mond und die Sterne. Mit dem Herzen bin ich mit ihnen verbunden, eins mit ihnen. Ich empfinde die Stadt als einen störenden Fleck, oder Loch im großen Ganzen. Nun weis ich, daß ich in Gott immer mit allen anderen Lebewesen auf der Erde verbunden sein kann. Es liegt nur an mir, ob ich will. Und ich will, denn alles andere kann nicht einmal von diesem Glücklich sein, dieser Harmonie und diesem Frieden, dieser unbezwingbaren Macht und Güte auch nur träumen. Mit dieser Gewißheit lege ich mich schlafen.